Der unbeugsame Richter aus Weimar: „Es waren sehr, sehr belastende Jahre“

Ein Richter entscheidet gegen die Corona-Maßnahmen. Heute weiß man: Er hatte recht. Doch das half ihm nicht. Er verliert seinen Job, steht vor dem Nichts.
Der Weimarer Familienrichter Christian Dettmar hat seinen Job verloren und steht vor dem Nichts. Er wurde rechtskräftig verurteilt, weil er in einem Urteil zum Maskenzwang Formfehler beging: Er hätte zu seiner Kommunikation mit den Betroffenen Aktenvermerke anlegen müssen. Plötzlich stand er als Verschwörer da. Keine Instanz beschäftigte sich mit der Sache an sich. Die von Dettmar angeforderten Gutachten wurden nicht gewürdigt– obwohl die RKI-Files und andere wissenschaftliche Erkenntnisse die Fragwürdigkeit der Maßnahmen im Nachhinein vollumfänglich bestätigten. Protokoll eines Falls, bei dem man den Glauben an die Gerechtigkeit verlieren könnte.
Herr Dettmar, wie sind Sie dazu gekommen, richterliche Anordnungen gegen den Maskenzwang und die Testpflicht in Schulen zu erlassen?
Ende 2020, Anfang 2021 sind immer wieder Eltern an mich herangetreten, manchmal in Sitzungspausen von Verhandlungen oder bei anderen Gelegenheiten. Sie haben mich gefragt, ob man nicht irgendetwas gegen diese Maßnahmen in den Schulen tun kann, die ihre Kinder und indirekt auch die Eltern extrem belasten. Ich hatte mich mit dem Thema bereits beschäftigt. Ich bin Anfang 2021 gemeinsam mit einem Kollegen hier aus Weimar dem Netzwerk „Kritische Richter und Staatsanwälte“ (KRiStA) als Gründungsmitglied beigetreten. Um eine rechtliche Maßnahme zu erwirken, kann ein Betroffener eine „Anregung“ einreichen.
Irgendwann hatte ich eine Anregung auf dem Tisch von einer Mutter, die zwei Söhne hier in zwei Weimarer Schulen hatte. Einen im Grundschulalter und einen in einer Regelschule, also in einer weiterführenden Schule. Sie hat angeregt, dass die Maßnahmen überprüft werden. Es ging um den Maskenzwang und das Testen. Ich habe das gemacht, was ich schon oft in meiner Berufskarriere gemacht habe. Ich habe ein einstweiliges Anordnungsverfahren eingeleitet und parallel dazu auch ein Hauptsacheverfahren. In dem Hauptsacheverfahren habe ich drei Gutachten eingeholt, nämlich von der Hygiene-Professorin Ines Kappstein, der Biologin Ulrike Kämmerer und dem Psychologen Christof Kuhbandner, die für verschiedene Fachrichtungen stehen.
Das Gericht hat Ihnen vorgeworfen, dass die Gutachter alte Bekannte von Ihnen seien. Stimmt das?
Ich hatte mich erst nur an Frau Prof. Kappstein gewendet. Ich habe ihr geschildert, welche Fragestellungen ich habe oder haben könnte. Das habe ich immer so gemacht. Wenn ich Sachverständige hatte, die ich noch nie bei mir im Saal hatte, dann habe ich die immer angerufen und zwei Fragen gestellt. Nämlich erstens, ob sie für bestimmte Fragestellungen von mir die notwendige, wissenschaftliche Expertise mitbringen. Und zweitens, ob sie auch ein mögliches Gutachten in einer vertretbaren Zeit erstellen können. Oft haben Gutachter nämlich gar keine Zeit. Diese Fragen hatte ich auch Frau Kappstein gestellt. Sie hat mir gesagt, dass sie für bestimmte, aber nicht für alle Fragen Expertise habe. Für die weiteren Fragen hat sie mich an die beiden Kollegen verwiesen. Von denen hatte ich zwar vorher schon gehört, kannte sie aber nicht. Ich habe also von drei Professoren mit verschiedenen Fragestellungen Gutachten eingeholt in dem Hauptsachverfahren. Die kamen dann. Sie waren die einzigen Gutachten, die es bis dahin zu der Thematik gab. Auf dieser Grundlage habe ich dann eine einstweilige Anordnung erlassen.
Der Urteil gegen Sie liest sich, als wäre das eine Verschwörung gewesen. Wer steckt hinter dem Netzwerk KRiStA?
Also das Wort Verschwörung ist völlig fehl am Platz. Das sind honorige Kollegen, also Staatsanwälte und Richter, entweder aktive oder auch im Ruhestand befindliche. Wir haben eine Homepage. Die kann jeder im Internet finden. Da steht auch unsere Satzung und unser Selbstverständnis. Wir veröffentlichen auf dieser Homepage seit mehreren Jahren inzwischen Beiträge zu rechtlichen Themen. Man kann auch Leserbriefe dazu schreiben. Es ist alles vollkommen transparent. Manche Leute versuchen, den Eindruck zu erwecken, KRiStA sei unseriös. Das ist grundfalsch.
Würden Sie sagen, dieses Netzwerk ist sozusagen eine Fachinformationsplattform, die es schon vor Ihrem Tätigwerden in der Maskensache gab?
Ja, das hat sich Anfang 2021 gegründet und meine Entscheidung stammt vom 8. April 2021.
Haben Sie den Gutachtern gesagt, was in deren Gutachten rauskommen soll?
Ich habe gesagt, welche Fragen ich habe, und ich habe mir erhofft, wie immer von Gutachtern, dass die in der Lage sind, mir die Fragen mit hoher wissenschaftlicher Qualität zu beantworten. Ich wollte Gutachten haben, die über jeden Zweifel erhaben sind.

Welche Fragen haben Sie gestellt?
Bei Frau Kappstein ging es vor allen Dingen um die Pflicht zum Maskentragen, ob das Tragen von Masken durch Laien im öffentlichen Raum, im Allgemeinen und von Kindern im Besonderen, irgendeinen Sinn habe. Bei Kuhbandner ging es um die Schäden, die Masken bei Kindern verursachen können. Bei Frau Kämmerer ging es um die Aussagekraft der PCR-Tests und der Schnelltests. Es gibt einen differenzierten Beweisbeschluss. Die Entscheidung, die ich getroffen habe, ist bei openJur veröffentlicht, wo das jeder nachlesen kann.
Haben die Gerichte beziehungsweise das Bundesverfassungsgericht diese Gutachten studiert oder zumindest gelesen?
Ob die sie gelesen haben, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Aber es hat sich inhaltlich bisher kein einziges Gericht mit den Gutachten beschäftigt. Auch nicht das Thüringer Oberlandesgericht, das meinen Beschluss aufgehoben hat. Dagegen wurde dann Rechtsbeschwerde eingelegt. Auch der Bundesgerichtshof in Zivilsachen hat sich nicht damit beschäftigt. Und das Landgericht Erfurt, das mich verurteilt hat, hat sich auch nicht damit beschäftigt, ebensowenig der Bundesgerichtshof in dem Verfahren gegen mich und das Bundesverfassungsgericht. Kein einziges Gericht hat die Gutachten gewürdigt. Die haben gemeint, das sei nicht nötig. Mit wurde lediglich vorgeworfen, dass ich Gutachten aus einer bestimmten Richtung beauftragt hätte.
Wurden die Gutachten nicht in den Plädoyers der Staatsanwaltschaft erwähnt?
Erwähnt nur in dem Zusammenhang, dass meine angebliche Voreingenommenheit auch darin zum Ausdruck komme, dass ich Gutachter aus einer bestimmten Richtung beauftragt habe.
Also mit dem Inhalt hat sich niemand befasst?
Das ist ja das Kuriose: Die Gutachterauswahl war einer der Vorwürfe, die mir gemacht wurden. Aber ob mir da wirklich ein Vorwurf gemacht werden kann, das hätte man nur feststellen können, wenn man sich mit den Gutachten inhaltlich beschäftigt. Das hat man aber nicht.
Es wurde Ihnen vorgeworfen, Sie hätten vorher gemauschelt. Das ist also unzutreffend?
Was bitte heißt mauscheln? Ich bin, soweit wir das überblicken, der erste Richter gewesen, zumindest im deutschsprachigen Raum, der überhaupt Gutachten eingeholt hat. Sie können ja einen solchen Beweisbeschluss nicht einfach mal irgendeinem Gutachter per Post schicken.
Die Gutachten sind deswegen so wichtig, weil sie im Grund zum gleichen Ergebnis wie die RKI-Protokolle kommen. Das hätten die Gerichte doch berücksichtigen müssen.
Die Gutachten haben sich in vollem Umfang bestätigt, wenn man als Maßstab nimmt, was jetzt nach der Veröffentlichung der RKI-Protokolle bekannt ist. Und das eigentliche Problem ist doch: Es wird immer gesagt, ja, mit dem Wissen von heute ist das doch klar, dass die Maßnahmen eben vielfach keiner kritischen Nachfrage standhalten. Aber mit dem Wissen von damals sei es halt nicht anders gegangen, da wusste man das alles noch nicht. Das stimmt einfach nicht. Die entscheidenden Punkte waren dem RKI schon von Anfang 2020 an bekannt. Es stellt sich die Frage, wenn das von Anfang an bekannt war und man es damals nicht nur besser hätte wissen können, sondern es sogar besser gewusst hat, warum trotzdem diese Maßnahmen angeordnet worden sind. Und das ist für mich die zentrale Frage, mit der sich eigentlich Untersuchungsausschüsse, Staatsanwaltschaften und Gerichte beschäftigen müssten.
Die Gutachten von Fachleuten hatten damals also schon dieselben Erkenntnisse wie das RKI?
Ja, was die Gutachter herausgefunden haben, das wusste das RKI damals auch schon, und heute wissen es eigentlich alle. Leider hat die Justiz bisher, soweit ich das sehe, die Veröffentlichung der RKI-Protokolle nicht genutzt, um eine Selbstkorrektur einzuleiten.
Es wurde Ihnen vorgeworfen, Sie hätten die Eltern selbst herangekarrt und ihnen beim Erstellen ihres Antrags geholfen.
Die Eltern waren mir völlig unbekannt. Drei oder vier Tage, bevor die Anregung eingegangen ist, hat mir ein Freund, der diese Eltern kannte – aber ich kannte sie eben nicht! –, die Anregung der Eltern geschickt. Er hat mich sinngemäß gefragt, ob man das so einreichen könne. Ich habe ein paar winzige redaktionelle Änderungen vorgenommen. Zum Beispiel habe ich gesehen, dass da irgendwas stand von Vorschriften aus Nordrhein-Westfalen, die ja in Thüringen nicht einschlägig sind. Aber im Grunde wäre es auch egal gewesen, es hätte ein Satz als Anregung genügt. Ich hätte ja das Verfahren auch ganz ohne Anregung eröffnen können.
Ich bin vielfach gefragt worden, warum ich eigentlich auf eine solche Anregung gewartet habe. Dafür gibt es einen guten Grund. Ich habe vorhin schon erwähnt, dass viele Eltern mich angesprochen haben, ob und was man gegen die Maßnahmen tun könne. Das hätte ich ja zum Anlass nehmen können, rein theoretisch sozusagen, na gut, dann leite ich jetzt mal Verfahren ein. Ich muss nicht auf eine Anregung warten. Ich kann das von Amts wegen tun. Viele Eltern haben aber gesagt, sie haben Angst, dass ihre Kinder durch den Kakao gezogen werden, dass sie dann eine schlechte Behandlung vielleicht in ihrer Schule erfahren, wenn sie keine Masken tragen.
Ich wollte nicht ein solches Verfahren Kindern und Eltern aufzwingen, die sagten: Wir sind zwar nicht mit den Maßnahmen einverstanden, aber bevor unser Kind in der Klasse gemobbt wird, ertragen wir es lieber still und wütend. Ich wollte Eltern haben, die ganz bewusst zu dem Verfahren stehen und habe deswegen gewartet, bis Eltern das ausdrücklich anregen. Rechtlich nötig wäre es nicht gewesen.

Es wurde Ihnen vorgeworfen, befangen zu sein, weil Sie mit den Eltern gesprochen haben.
Es ist in der Fachkommentarliteratur zum Familienrecht in mehreren Kommentaren ausdrücklich ausgeführt, dass nicht nur der Beamte in der Geschäftsstelle oder der Rechtspfleger, sondern auch ich als zuständiger Familienrichter selber eine solche Anregung aufnehmen darf. Und ich soll sogar darauf hinwirken, dass der mutmaßliche Wille des Anregers erfragt wird. Und soll für eine klare Formulierung des Begehrens sorgen. Das ist ausdrücklich in der Kommentarliteratur ausgeführt. Und das Interessante ist ja, dass der BGH in seiner Entscheidung mir auch ausdrücklich zugestanden hat, dass es so ist. Er hat gesagt, ja, ich durfte an der Formulierung dieser Anregung mitwirken und da Hilfestellung geben. Aber, und jetzt kommt das, was mir der BGH vorwirft, ich hätte darüber einen Aktenvermerk machen müssen. Das hätte ich unterlassen. Und das ist der Vorwurf des BGH.
Es kann halt nicht jeder so sorgfältig arbeiten wie Frau von der Leyen, die über jeden ihrer Deals genaueste Aktenvermerkte anlegt. Sie haben die Anregung für zwei Kinder aus einer Familie erlassen, aber gleichzeitig auch für zwei Klassen, also für mehrere Schüler.
Wenn man es ganz genau nimmt, das waren zwei Schulen, eine Regelschule und eine Grundschule. Ich habe die Anordnung für die beiden Kinder und alle Kinder an beiden Schulen erlassen.
Damit haben Sie allen Kindern, die das auch wollten, die Möglichkeit gegeben, sich den Maßnahmen nicht auszusetzen?
Ich habe ja nicht nur die Gutachten eingeholt. Ich habe für diese beiden Kinder auch einen Verfahrensbeistand bestellt, eine Rechtsanwältin. Es ist im Gesetz geregelt, dass das in bestimmten Fällen passieren kann oder auch passieren muss. Dieser Verfahrensbeistand ist eine Art Anwalt der Kinder, der muss und soll deren Interessen wahrnehmen. Die Rechtsanwältin hat mir einen ausführlichen Bericht über die Situation der beiden Kinder geliefert. Teile davon sind auch in meiner Entscheidung abgedruckt. Aus dem Bericht wurde für mich deutlich, dass die Lage nicht nur für die beiden Kinder, sondern für alle Kinder an diesen beiden Schulen gleich ist. Das hat mich dazu bewogen, nicht nur für diese beiden Ursprungskinder, wenn ich sie so nennen darf, sondern auch für ihre Mitschüler an beiden Schulen eine Entscheidung im Wege der einstweiligen Anordnung zu erlassen.
Und diese Entscheidung ist so gewesen, dass man sagte, okay, wer trotzdem freiwillig Maske tragen will, sich testen will, kann das tun?
Wichtiger Punkt, der häufig falsch berichtet wurde. Ich habe ja nicht „verboten“, dass Kinder Maske tragen oder sich testen, sondern nur verboten, dass ihnen das vorgeschrieben wird. Wer das freiwillig tun wollte, hätte das jederzeit weiter machen können.
Dann haben Sie diese Anordnung rausgegeben, was ist danach passiert?
Die wurde gar nicht umgesetzt.
Oh. Warum?
Das ist eine gute Frage. Das Ministerium hat vermutlich darauf hingewirkt, dass das nicht umgesetzt wird. Es wurden dann auch Rechtsmittel eingelegt.
Aber wenn Sie einen Beschluss machen und der wird rechtsverbindlich, dann hätten wir gedacht, dass man sich zunächst mal dran halten muss, bis der aufgehoben wird.
Nageln Sie mich nicht darauf fest, ich kann Ihnen nicht genau sagen, ob der vielleicht doch für einen halben Tag umgesetzt wurde. Soweit ich weiß, wurde meine Entscheidung überhaupt nicht umgesetzt und es wurden dann Rechtsmittel eingelegt durch den Freistaat Thüringen und das Thüringer Oberlandesgericht hat dann meine Entscheidung aufgehoben.
Ihnen wurde unter anderem vorgeworfen, dass die Verwaltungsgerichte für einen solchen Beschluss zuständig seien und nicht ein Familiengericht.
Das war zum Zeitpunkt meiner Entscheidung rechtlich völlig ungeklärt. Meine Entscheidung hat sich da auf eine bestimmte gesetzliche Bestimmung gestützt, nämlich den § 1666 Absatz 4 BGB, wonach ich auch Entscheidungen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen kann. Wer ein solcher Dritter ist, zum Beispiel hier die Lehrer und Direktoren oder die Schulverwaltung, und ob ich denen als Familienrichter eine solche Weisung erteilen kann oder nicht, war zum damaligen Zeitpunkt völlig ungeklärt. Erst heute gibt es durch meinen Fall obergerichtliche Rechtsprechung dazu.
Sie hatten also den Beschluss gefasst. An wen erging der?
Der ging an alle Beteiligten. An die Eltern, die das angeregt haben. Es ging an die beiden Schulen, an den Freistaat Thüringen, an die Rechtsanwältin, die als Verfahrensbeistand der Kinder eingesetzt war, an das Jugendamt.
Ein breiter Kreis. Eigentlich hätte jetzt jeder in der Schule sagen können: Hier ist ein richterlicher Spruch, es braucht hier überhaupt niemand Maske zu tragen, richtig?
Ja, aber so war es eben wohl nicht, weil der Beschluss, soweit ich gehört habe, nicht umgesetzt wurde.

Aber das heißt, irgendjemand muss den Eltern und Lehrern gesagt haben, ja, ihr habt zwar einen Beschluss von einem unabhängigen Richter, aber der gilt nicht. Richtig?
Wer da was genau gesagt hat, da kann ich jetzt auch nur mutmaßen. Jedenfalls wurde im Ergebnis der Beschluss nicht umgesetzt.
Innerhalb einer Woche hat dann das Land Thüringen Beschwerde eingelegt.
Damit waren dann die Schulen fein heraus. Sie haben gesagt, hier ist eine Beschwerde, wir haben nichts mehr damit zu tun.
Als nächstes kamen die Hausdurchsuchungen?
Die erste Hausdurchsuchung, ich hatte zwei, kam ziemlich schnell. Die war noch im April 2021, und dann gab es nochmal eine zweite im Juni 2021. Die Entscheidung war am 8. April, die Hausdurchsuchung am 26. April, also nur zwei Wochen später.
Wie ist die abgelaufen? Die standen bei Ihnen morgens früh vor der Haustür, wieviele Polizisten waren da, waren die vermummt?
Vermummt waren sie nicht, aber es waren eine ganze Reihe. Es war ein Staatsanwalt dabei, es waren mehrere Polizisten dabei und die haben den Durchsuchungsbeschluss vorgezeigt und haben dann halt meine Wohnung und auch mein Büro und mein Auto durchsucht.
Was haben Sie damals gedacht?
Ich war völlig überrascht. Ich hatte damit gerechnet, dass über meine Entscheidung diskutiert wird und dass vor allem die Sachdiskussion in Gang kommt, dass man darüber spricht, ob diese Maßnahmen aufrechterhalten werden können. Aber ich hätte im Leben nicht erwartet, dass jetzt ein Ermittlungsverfahren gegen mich in Gang kommt.
Wie war Ihre Reaktion?
Ich war alleine bei der Hausdurchsuchung und ich war erschreckt und völlig verblüfft und musste das erstmal verdauen. Ich erfuhr ja erst in diesem Moment, dass ein Ermittlungsverfahren gegen mich läuft. Sie haben ja auch keinen ruhigen Moment, um das zu verdauen, denn um Sie herum läuft ja die Durchsuchung.
Haben die die Wohnung richtig auf den Kopf gestellt oder höflich nach dem Computer gefragt?
Also, die haben sich einigermaßen zivilisiert verhalten, das kann ich schon sagen, aber sie haben halt nach allem Möglichen gesucht: Ich hatte den Eindruck, dass die zwar vordergründig wussten, was sie suchen – Telefone, Computer –, aber im Tieferen eigentlich selber nicht genau wussten, wonach sie suchen sollen.
Haben Sie darüber mit der Polizei geredet oder schließen Sie das aus dem Zusammenhang?
Naja, ich habe zum Beispiel gesehen, die haben aus meinem Papierkorb irgendeinen Zettel rausgezogen. Da hatte ich einen Paragrafen notiert, nur den Paragraf so und so, ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang. Das mache ich ja schon seit Jahrzehnten so, wahrscheinlich habe ich da über irgendwas nachgedacht und mir eine Notiz gemacht. Und dann gucken die den Zettel an und überlegen sich, ist das nun eine Spur oder nicht? Das hat mir gezeigt, eigentlich wissen die nicht, wonach die suchen sollen.
Danach sind sie wieder abgezogen mit Ihren Computern?
Also mein dienstlicher Computer, der steht ja nicht bei mir zu Hause, sondern im Büro. Der wurde natürlich auch durchsucht. Da war auch eine Gruppe von Beamten und Staatsanwälten, die mein Büro durchsuchten. Die haben sich natürlich auch meinen Dienstcomputer angeschaut.
Es wurde behauptet, auf Ihrem privaten Computer sei nichts mehr zu finden gewesen, weil Sie ein neues Betriebssystem draufgespielt hätten.
Das ist nicht richtig. Mein Computer, den ich damals hatte, der war schon steinalt und hätte gar kein neues Betriebssystem mehr akzeptiert. Der hat auch keine Software-Updates mehr akzeptiert. Und dann ging er auch noch kaputt und deswegen habe ich ihn ersetzt. Also es war nicht ein neues Betriebssystem, sondern ein neuer Computer, ein neuer Laptop, um genau zu sein. Der hatte natürlich auch ein neues Betriebssystem.
Wie ging es dann weiter?
Ich habe noch bis Januar 2023, also noch ungefähr eindreiviertel Jahre, voll weitergearbeitet, auch mit unverändertem Aufgabenzuschnitt in meinem Dezernat. Erst im Januar 2023 wurde ich vorläufig vom Dienst suspendiert.
Sie wurden suspendiert, nachdem die ganze Pandemie schon vorbei war? Nachdem alle schon eine ganz andere Erkenntnislage hatten?
Ich kann hier nur Vermutungen anstellen, dass sich das Ermittlungsverfahren so lange hingezogen hat, weil die Staatsanwaltschaft ewig damit beschäftigt war, ihre Daten auszuwerten. Es gab ja auch noch Hausdurchsuchungen bei einem Kollegen und bei den Eltern, bei den Gutachtern und bei zahlreichen Personen. Und da fallen natürlich jede Menge Computer, Mobiltelefone und anderes an. Auch bei der Anwältin, die als Verfahrensbeistand der Kinder aufgetreten ist, gab es eine Hausdurchsuchung.
Ist das eigentlich okay, dass man bei einer Anwältin so vorgeht?
Also, ich finde das nicht okay. Ich habe ja schon gesagt, ich weiß nicht, wonach man eigentlich gesucht hatte. Mein Anwalt Dr. Strate hat einmal gesagt, das einzige „Tatwerkzeug“ von mir ist der Beschluss, den ich gefasst habe. Und den muss man nicht suchen, der steht in der Akte. Da hätte man einfach reingucken müssen.
Sie wurden dann verurteilt, die Berufung und das Verfassungsgericht haben auch letztinstanzlich praktisch alles abgeschmettert, richtig?
Ich wurde im August 2023 erstinstanzlich verurteilt. Dagegen gibt es keine Berufung, sondern wir haben Revisionen zum Bundesgerichtshof eingelegt. Am 20. November 2024 hat der Bundesgerichtshof seine Entscheidung verkündet, nämlich unsere Revision und auch die der Staatsanwaltschaft zu verwerfen.
Und jetzt sind Sie endgültig raus aus dem Dienst, haben alles verloren, Ihre Renten, Bezüge, alles?
Mit der Verkündung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs am 20. November 2024 wurde meine Verurteilung, die vorher durch das Landgericht Erfurt erfolgte, rechtskräftig. Ich bin also kein Richter mehr, auch kein Richter außer Dienst, sondern gar keiner mehr. Ich erhalte auch keine Bezüge mehr. Ich bin vollkommen aus dem Justizdienst ausgeschieden.

Wovon leben Sie jetzt?
Von der Unterstützung freundlicher Menschen um mich herum. Ich darf ja auch nicht als Anwalt arbeiten. Ich habe keine Anwaltszulassung und würde die auch über Jahre hinaus nicht bekommen. Ich darf auch nicht für irgendeine Partei, egal für welche, zur Wahl antreten. Das ist eine Nebenfolge meiner Verurteilung, dass ich ein solches Amt, ich glaube, für fünf Jahre nicht antreten dürfte. Also da bin ich schon einigermaßen gehandicapt.
Sie wirken dennoch nicht verbittert, sondern freundlich, fröhlich, ausgeglichen. Ist das alles Show, oder haben Sie irgendwas in der Hinterhand, womit Sie sagen, Sie können mit der Situation umgehen?
Das ist keine Show. Das waren schon sehr, sehr belastende Jahre für mich. Aber im Moment komme ich klar und freue mich darüber, dass es Menschen gibt, die mich unterstützen. Das gibt mir Halt.
Fühlen Sie sich gesellschaftlich geächtet oder sehen Sie sich eher als ein stillen Helden?
Ich sehe mich nicht als Held, auch nicht als stillen. Ich habe nur versucht, meine Arbeit zu machen. Die gesellschaftliche Spaltung, die nehme ich wahr, aber da habe ich nichts Besonderes zu erzählen. Das können Millionen andere Menschen in Deutschland, und nicht nur in Deutschland, auch erzählen.
Haben Sie eigentlich noch eine Chance auf den Rechtsweg, etwa auf der europäischen Ebene?
Das müssen wir noch besprechen und bedenken. Es gäbe einen Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dem EGMR.
Würden Sie auch heute wieder so entscheiden wie damals, mit dem Wissen über alles, was Ihnen danach widerfahren ist?
Ich würde dasselbe machen wie damals, nämlich alles sorgfältig zu prüfen und dann eine Entscheidung zu treffen. Es gibt ja auch Unterschiede zur damaligen Situation. Heute gibt es obergerichtliche Rechtsprechung, zum Beispiel zur tatsächlichen oder vermeintlichen Zuständigkeit. Die gab es damals noch nicht.
Hinweis zum Nachhören: Im folgenden Video ist die Begründung des BGH zu hören. Es wird klar, dass sich der BGH das Narrativ der Vorinstanzen zu eigen macht, es habe sich beim Vorgehen des Richters um eine Art hinterlistige Verschwörung gehandelt. An keiner Stelle erwähnt der BGH den Inhalt der Gutachten, geschweige denn die Erkenntnisse aus den RKI-Files. Der BGH insinuiert die Möglichkeit einer Rechtsprechung quasi im luftleeren Raum, diskreditiert ohne Sachgrundlage die Gutachter („ein Gutachter hat sich zuvor kritisch geäußert“) und ignoriert die Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung eine öffentliche Debatte über die Maßnahmen von politischer Seite teils mit brachialen Methoden („Panikpapier“ des Innenministeriums) unterbunden wurde. Der Senat des BGH hält die in keiner Weise belegte Möglichkeit aufrecht, der Richter habe sich gar nicht für das Kindeswohl interessiert. Er schlägt sich letztlich auf die Seite des Freistaats Thüringen, der durch die Anregung des Richters Nachteile erfahren habe. Worin diese Nachteile bestanden haben, erläutert der BGH nicht. Es entsteht der Eindruck, dass die Justizorgane in diesem Verfahren - ungeachtet ihrer Verpflichtung zur Neutralität, die gegenüber dem Richter mit Pathos angemahnt wird - der unbedingten Durchsetzung der staatlichen Maßnahmen auch „ex post“ und ohne Würdigung von sachbezogenen, neuen Erkenntnissen den Vorrang einräumen wollten.
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Berliner-zeitung